(Dies ist ein Ausschnitt aus dem Reisebericht Finnland und Schweden – Sommer 2009)
Im Norden von Finnland am Polarkreis wird es im Sommer nicht finster. Es war leicht für uns, ein geeignetes Schlafplätzchen mit unserem Campingwagen zu finden, weil der Zeitdruck wegfiel. In Finnland konnte ich es mir erlauben, anspruchsvoll zu sein: „Ich möchte es ruhig haben und knapp bei einem See stehen, für mein tägliches, morgendliches kühles Bad.“ Wir mussten nicht lange suchen: der Badestrand der kleinen Stadt war frisch gemäht, und dahinter lag ein großer offener Sportplatz. Ich konnte mich auf eine ruhige Nacht freuen. Nachdem ich ein großes Glas herrlichen Likör aus Tallin getrunken hatte und mir die Ohropax fest in die Ohren drückte schlief ich sofort ein. Um ca 6 Uhr 30 wurde ich nicht nur durch die pralle Sonne geweckt, sondern durch Autotürengeknalle. Langsam schälte ich mich aus meiner Daunendecke und zog mir mein indisches Flatterkleid über. Fast geräuschlos öffnete ich die Campytür. Ich traute meinen Augen nicht. Wir waren umzingelt von Autos, die dicht an dicht um uns herum standen. Aus den Autos krochen zum Teil ein oder zwei recht alte Leute heraus, die scheinbar nicht sehr gut zu Fuß auf einen Platz nahe dem Strand zusteuerten, der mit feinem Kies bestreut war. Immer mehr Leute strebten zu diesem Platz, zum Teil schwerfällig auf ihren Handwagerln (Rolleder) gestützt, zum Teil in Elektrositzwagerln.
Um besser sehen zu können holte ich schnell meinen Feldstecher aus dem Campy.
Schwere Taschen wurden auf die Bänke gehieft und ausgeräumt, in Küchenwagerln wurde gekramt, die alten Damen schälten sich aus den Überkleidern um sich dann im Trägerleiberl zu präsentieren. Manche Herren hatten Mühe, sich über den fülligen Bauch zu bücken, um sich die Hosenbeine hinaufzukrempeln. Zwei Damen streiften sich fingerlose Rehlederhandschuhe über. Schachteln mit einem weißem Pulver wurden auf Klappstühle gestellt, und zu all den Aktionen wurde geschnattert. Finnisch ist für meine Ohren eine harte Sprache mit vielen gerollten rrrrr. Für mich klang es, als wäre ein Ganselstall umgefallen.
Endlich begriff ich, worum es ging, nachdem ein dicker Mann mit einem Teleskopmagneten aus seiner am Boden stehenden Sporttasche Bocciakugeln herausgefischt hatte. Ein schriller Pfiff ertönte. Alle Leute gingen so schnell sie konnten zu einem großen Topf, um sich ein Los zu holen. Der Bocciawettkampf war eröffnet. Die schwer gehbehinderten Leute erhoben sich mühsam aus ihren Rollstühlen, warfen mit leichter Geste ihre schweren Kugeln, um sich mit einem Plumpser wieder in ihre Gehilfen zurückfallen zu lassen. Manche Damen legten ihren Gehstock kurz weg, um schnell wieder danach zu greifen, als ihre Kugel unterwegs war. Ein paar Männer wischten sich den Schweiß von der Stirne mit den Frotteehandtüchern, die sie locker über die Schulter geworfen hatten. Es ging ununterbrochen: klick, klack. Je nachdem wie fest die Kugeln aneinander prallten. Manchmal wurde zu den klick klack Geräuschen herzlich gelacht, oder eben nur laut geschnattert.
Obwohl mir schon schwindlig war, weil ich so lange durch meinen Feldstecher schaute, konnte ich meinen Blick von dieser Boccia-Gemeinschaft nicht lassen. Die alten Leute waren ständig in Bewegung und setzten sich erst dann auf die bereitgestellten Bänke, nachdem sie aus dem Spielverfahren ausgeschieden waren. Dort wurde fleißig das Spiel weiter kommentiert und imaginäre Kugeln in die verschiedensten Richtungen geworfen. Den Ausscheidungskampf bestritten zwei Männer, ich konnte nicht herausbekommen, welcher von ihnen gewann, weil sie sich am Schluss gegenseitig so fest auf die Schultern klopften, dass es krachte.
Die Damen zogen ihre Überkleider an, streiften ihre fingerlosen Rehlederhandschuhe ab, die Herren ließen ihre hinaufgestreckten Hosenbeine herunter, wobei ich mir einbildete sie schauten nach, ob sich nicht doch eine der kostbaren Kugeln darin versteckt hatte. Die Boccia Kugeln wurden feinsäuberlich mit den schweißgetränkten Handtüchern glatt poliert und in spezielle Boxen verstaut, die mit violetten Samt ausgeschlagen waren.
Als erstes verließen die Rollstuhlfahren und Elektrowagerlfahrer den Platz, und dann hüllten uns die abfahrenden Autos in eine Dieselabgaswolke. Um 8 Uhr 30 kletterte die Sonne langsam über die Wolken und es wurde trüb und kühler. Erschöpft vom Bocciaspiel Zuschauen kroch ich zurück unter meine Daunendecke.
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